Am 21. und 22. Juni findet in London die nächste Internationale Konferenz zum Wiederaufbau der Ukraine statt. Es geht um viel Geld, seine Verteilung und die nötige Kontrolle. Wenn viele Akteur*innen zusammenarbeiten, kann die Mammutaufgabe ohne große Korruption gelingen. Ein Interview mit Olena Halushka, Vorständin des ukrainischen Anti-Korruptions-Aktionszentrum (AntAC).
Sind die Anti-Korruptions-Behörden in der Ukraine für die enormen Geldsummen, die zum Wiederaufbau ins Land fließen werden, überhaupt gerüstet?
Olena Halushka: Es wird sich definitiv um noch nie dagewesene Summen handeln. Keine der öffentlichen Verwaltungen auch anderer Länder, wahrscheinlich mit Ausnahme der USA, kann solche Summen verkraften. Daher ist es sehr wichtig, dass wir alle notwendigen Vorkehrungen zur Korruptionsbekämpfung treffen - damit wir zu 100 Prozent sicher sein können, dass dieses Geld optimal verwendet wird. Und dafür müssen wir auf jeden Fall die Transparenz und die Instrumente zur Kontrolle weiter verbessern.
Wir haben bereits ein sehr fortschrittliches elektronisches Beschaffungssystem, Prozorro, in dem staatliche und kommunale Auftraggeber Ausschreibungen für den Kauf von Waren und Dienstleistungen veröffentlichen, und in dem sich Vertreter der Wirtschaft darum bewerben, staatlicher Lieferant zu werden. Doch das ist nicht genug. Kolleg*innen aus der Zivilgesellschaft haben zusammen mit dem Ministerium für Digitalisierung ein System namens Dream entwickelt, mit dessen Hilfe alle Projekte in jeder einzelnen Phase von Anfang an bis nach der Umsetzung überwacht werden können. Aber wir sind der Meinung, dass dies immer noch nicht genug ist.
Die lokale Zivilgesellschaft sollte die Aktivitäten der lokalen Behörden überwachen.
Was muss noch getan werden?
Meine Organisation AntAC vertritt den Standpunkt, dass der anfälligste Teil eines jeden künftigen Wiederaufbauprozesses die Beschaffung ist. Wenn die Gelder von internationalen Fonds verwaltet werden und auch die Beschaffung von internationalen Partnern organisiert wird, würde dies die Gefahr eines möglichen Missbrauchs minimieren. Außerdem ist es sehr wichtig, die Zivilgesellschaft zu stärken und die Arbeit investigativer Journalist*innen zu beobachten, die selbst in Kriegszeiten erstaunliche Arbeit leisten. Die Tatsache, dass Journalist*innen Anfang dieses Jahres ein System überhöhter Preise bei der Lebensmittelbeschaffung im Verteidigungsministerium aufgedeckt haben, ist ein klares Zeichen dafür, dass verschiedene Säulen der ukrainischen Demokratie, wie die öffentliche Kontrolle, weiter funktionieren.
Wir müssen auf jeden Fall dafür sorgen, dass die Kommunen ein Mitspracherecht beim Wiederaufbau haben, denn sie werden die eigentlichen Träger dieses Prozesses sein. Die lokale Zivilgesellschaft wiederum sollte die Aktivitäten der lokalen Behörden überwachen. Und die ukrainische Anti-Korruptions-Behörde (Nabu), die Sonderstaatsanwaltschaft für Korruptionsbekämpfung (SAPO) und das Oberste Anti-Korruptions-Gericht sollten die Zuständigkeit für jeden möglichen Missbrauch oder jede Veruntreuung im Rahmen des Wiederaufbaus haben. Mit den internationalen Partnern, die die Gelder verwalten, mit Transparenz- und Kontrollinstrumenten sowie mit dem Monitoring durch die Zivilgesellschaft und einer sehr starken Rolle der lokalen Verwaltungen bin ich ziemlich optimistisch, dass der Wiederaufbau ordnungsgemäß von statten gehen wird.
Was muss noch getan werden, um die Zivilgesellschaft so zu unterstützen, dass sie in der Lage ist, ihren Teil zur Begleitung und Kontrolle des Wiederaufbaus beizutragen?
Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Wir sind eine Organisation von 25 Personen. Von unseren 25 Mitarbeiter*innen kämpfen sechs an der Front und drei haben ihre Aktivitäten von Programmen zur Korruptionsbekämpfung auf die Mobilisierung von Unterstützung der Ukraine aus der ganzen Welt verlagert. Die beste Voraussetzung für zivilgesellschaftliche Tätigkeit zum Monitoring des Wiederaufbaus wäre definitiv der ukrainische Sieg. Er würde uns helfen, unsere Kapazitäten und Ressourcen von den kriegsbezogenen Aktivitäten auf das zu konzentrieren, was wir am liebsten tun würden.
Zwischen 2014 und 2022 haben wir sehr gute Erfahrungen damit gemacht, uns gemeinsam für Reformen einzusetzen. Dabei hat die Europäische Union eine sehr wichtige Rolle gespielt, denn sie hat nicht nur Peitschen, sondern auch Zuckerbrot zur Verfügung. Früher war dies der Aktionsplan zur Visa-Liberalisierung, der mit sehr klaren Reformauflagen verbunden war. Jetzt gibt es ein noch viel mächtigeres Instrument - ich nenne es den Leopard-Panzer II zur Förderung notwendiger Reformen: den EU-Beitrittsprozess. Er ist an sehr klare und konkrete Reformen geknüpft, die wir uns als Zivilgesellschaft auf die Fahne schreiben. Wir werden die ukrainische Regierung zu diesen Reformen drängen, weil die ukrainische Gesellschaft sie wünscht. Mehr als 70 Prozent der Ukrainer*innen sind davon überzeugt, dass die Europäische Union Reformen fordern sollte. Gemeinsam sollten wir es schaffen, diesen sogenannten Sandwich-Effekt weiter anzuwenden: Die Zivilgesellschaft übt von der einen Seite und die internationalen Partner üben von der anderen Seite Druck aus, und die ukrainische Regierung als das Stück Fleisch dazwischen muss die Reformen durchführen.
Aber die Geber befinden sich in einem Dilemma: Einerseits wollen sie kontrollieren, wie das Geld ausgegeben wird. Auf der anderen Seite gibt es viele Vorwürfe, dass sie paternalistisch oder sogar kolonialistisch handeln. Wie kann dieses Dilemma gelöst werden?
Wir als Zivilgesellschaft befinden uns in einem ganz ähnlichen Dilemma. Wie können wir von der ukrainischen Regierung echte, umfassende und transparente Reformen fordern, wenn sich die Ukraine zugleich gegen einen Völkermord verteidigt? Die Unterstützung der ukrainischen Kriegsanstrengungen hat absolute Priorität. Deshalb bin ich der Meinung, dass weder die Geberländer noch die ukrainische Zivilgesellschaft etwas Außergewöhnliches oder gar Unmögliches verlangen sollten. Es ist viel schlimmer, schwache Reformen zu machen, als keine Reformen durchzuführen und sie zu einem späteren Zeitpunkt in Angriff zu nehmen, wenn die Bedingungen es erlauben.
Ich empfehle, sich vor allem an Reformen zu halten, die technisch nicht sehr kompliziert sind, sich aber politisch als nicht durchsetzbar erweisen. Das beste Beispiel dafür ist die Ernennung des Leiters der spezialisierten Anti-Korruptions-Staatsanwaltschaft. Zwar wurde ein Kandidat nominiert, aber letztlich gab es zwei Jahre lang fast überhaupt keine Bewegung in der Sache. Der Prozess war politisch blockiert, weil das Präsidialamt die Kandidatur von Oleksandr Klymenko nicht vorantreiben wollte. Diese bizarre Situation wurde erst durch den EU-Kandidatenstatus für die Ukraine gelöst. Die Besetzung des Postens war eine Reformbedingung.
Nachdem Klymenko im August 2022 ernannt worden war, hauchte er der Institution einen zweiten Atem ein. Eine Reihe Untersuchungen von Korruptionsfällen, die ins Stocken geraten waren, wurden neu aufgenommen und fortgeführt. Alle Korruptionsfälle, über die in den Medien seither berichtet wird, sind eigentlich weniger ein Beweis dafür, dass die Ukraine sehr korrupt ist. Sie belegen vielmehr, dass die ukrainischen Institutionen zur Korruptionsbekämpfung ordnungsgemäß arbeiten und ihre Aufgabe sogar in Kriegszeiten erfüllen. Ich würde also vorschlagen, dass die Geberländer und Geberorganisationen und die Zivilgesellschaft diese technisch relativ einfachen, aber politisch ins Stocken geratenen Reformen aufgreifen und ihre Vorgaben hartnäckig durchsetzen. Wenn man die Vorgaben verwässert, schafft das einen schlechten Präzedenzfall.
Der Status des EU-Beitrittskandidaten wirkt sich also positiv auf die Anti-Korruptionsarbeit in der Ukraine aus?
Das war die beste Entscheidung, die die Europäische Union im letzten Jahr in Hinblick auf unsere Reformarbeit getroffen hat.
Natürlich haben wir Probleme mit Korruption, aber die Ukraine hat in den letzten neun Jahren enorme Fortschritte gemacht.
Sollten alle Wiederaufbaubemühungen über eine zentrale Institution laufen oder besser dezentralisiert werden, mit direkten Kontakten zwischen Gebern und lokalen Gemeinden oder Städten in der Ukraine?
Angesichts des Ausmaßes der Wiederaufbaumaßnahmen sollte beides gehen. Einige Länder helfen bereits direkt beim Wiederaufbau bestimmter Städte. Ich weiß, dass Dänemark etwas für die Stadt Mykolajiw tut. Aber ich denke, dass das meiste Geld zentralisiert werden sollte. Wenn die Geber dieses Geld verwalten und die ukrainische Regierung die Liste der Bedürfnisse führt, wäre das wahrscheinlich die perfekte Lösung. Und es gibt bereits einen Fonds, den Treuhandfonds der Weltbank, der als eine Art Koordinationspool für einige der Gelder dient. Sie kommen von internationalen Partnern, die sich nicht direkt an Projekten beteiligen wollen oder keine Kapazitäten dazu haben. Das ist positiv, denn die Weltbank besitzt viel und gute Erfahrung in der Zusammenarbeit mit der ukrainischen Regierung. Manchmal ist der Treuhandfonds sicherlich überreguliert. Deshalb ist es auch wichtig zu verhindern, dass zu viel Geld für Bürokratie ausgegeben wird. Aber die Mischung aus der ukrainischen Wirklichkeit und den Erfahrungen der internationalen Partner könnte eine sehr gute Kombination sein.
Die Ukraine hat den Ruf, besonders korrupt zu sein. Inwieweit ist das gerechtfertigt?
Es ist außerordentlich wichtig, die Korruption in der Ukraine in ihrer Dynamik zu beurteilen. Natürlich haben wir Probleme mit Korruption. Aber schauen wir, wie sich die Ukraine im Vergleich zu, sagen wir, 2013, als Janukowitsch Präsident war, verändert hat: Wenn man die enormen Fortschritte und Errungenschaften sieht, die nach dem Euromaidan, der Revolution der Würde im Jahr 2014, mit Blick auf die Rechenschaftspflicht, den Aufbau neuer Institutionen zur Verfolgung und Aburteilung von Korruptionsfällen sowie auf Transparenzinstrumente gemacht wurden, dann kann man mit Fug und Recht sagen, dass die Ukraine in den letzten neun Jahren enorme Fortschritte gemacht hat.
Die Tendenz ist positiv. Aber welchen Einfluss hat der Krieg auf die Korruptionsbekämpfung?
Offensichtlich hat er einige negative Auswirkungen, da eine Reihe von sehr fortschrittlichen Transparenzmaßnahmen wie zum Beispiel alle öffentlichen Register, vom Fahrzeugregister bis zu den Grundbüchern und Katastern, jetzt geschlossen sind. Sie waren vor Beginn des Angriffskrieges öffentlich zugänglich - ein im Vergleich zu anderen europäischen Ländern sehr fortschrittliches elektronisches Meldesystem.
Dieses System wurde aus Sicherheitsgründen abgeschaltet, als sich die russischen Panzer Kyjiw näherten. Diese Daten wurden damals zu Recht geheim gehalten. Aber im Moment müssen wir ein sehr fragiles Gleichgewicht zwischen der Sicherheit und der Notwendigkeit finden, zu den bewährten Praktiken zurückzukehren, sobald es die Sicherheitslage erlaubt. Aus diesem Grund werden derzeit einige Schritte unternommen, um das System der elektronischen Vermögenserklärung wiedereinzuführen.
Andererseits hat dieser große Krieg, wenn ich das so sagen darf, eine positive Auswirkung auf die Nulltoleranz gegenüber der Korruption. Denn die Ukrainer*innen zahlen einen absolut hohen Preis mit unserem wertvollsten Gut - mit den Menschen unseres Volkes, das für die Chance, ein anständiges Leben in einer wirklichen Demokratie zu führen, für Menschenrechte und all das, was wir europäische Werte nennen, kämpft. Wenn sie einen solchen Preis zahlen, werden die Ukrainer*innen nicht zulassen, dass ein korrupter Gauner zu seinen alten Praktiken zurückkehrt. Was die Stimmung in der Gesellschaft angeht, haben wir den Punkt, an dem es kein Zurück im Kampf gegen die Korruption mehr gibt, bereits überschritten.
Welche Reform ist zur Bekämpfung der Korruption jetzt am dringendsten erforderlich?
Die Justizreform. Unsere Anti-Korruptions-Institutionen sind sehr effektiv. Aber wenn es in den ordentlichen Gerichten noch Schlupflöcher gibt, können Täter*innen versuchen, diese für ihre Zwecke zu missbrauchen. Bisher hat die Ukraine mehrere Versuche unternommen, die Justiz zu reformieren. Die Ironie ist, dass wir von Anfang an versucht haben, die besten europäischen Standards für eine Unabhängigkeit der Justiz einzuführen. Diese Standards haben aber in einer Übergangsdemokratie wie der Ukraine völlig versagt. Denn wenn man der Justiz mehr Unabhängigkeit und Befugnisse bei Entscheidungen zur Ernennung und Entlassung von Richter*innen und bei Disziplinarverfahren einräumt, ohne sicherzustellen, dass korrupte Richter*innen aus dem System geworfen werden, dann zementiert man im Grunde nur die Probleme und baut einen Staat im Staat auf. Wir mussten also ein paar Schritte zurückgehen und die Justizverwaltungsorgane, den Hohen Justizrat und die Hohe Qualifikationskommission für Richter*innen unter Beteiligung internationaler Partner säubern. Diese Organe der Justizverwaltung müssen nun gut 2.500 freie Stellen neu besetzen.
Auch beim Obersten Gericht muss etwas getan werden, denn der Korruptionsfall des ehemaligen Leiters des Obersten Gerichtshofs, Vsevolod Kniaziev, zeigt uns, dass dieser Gerichtshof leider nach den falschen Grundsätzen aufgebaut wurde. Es gibt dort korrupte Richter*innen, die entlassen werden müssen. Das Gleiche gilt für das Verfassungsgericht. Wenn es uns gelingt, das Justizsystem in Ordnung zu bringen, wäre das die beste Garantie für Investoren und ihre Eigentumsrechte. Und es wäre etwas, was die ukrainische Gesellschaft schon seit fast zehn Jahren fordert. Das ist das Juwel in der Krone aller ukrainischen Reformen.
Glauben Sie, dass die Justizreform bald abgeschlossen sein wird?
Es ist sehr wichtig, die Erwartungen richtig zu steuern, denn 2.500 freie Stellen zu besetzen ist eine Menge Arbeit. Aber innerhalb der nächsten Jahre ist es absolut machbar.
Das Interview führte Johannes Voswinkel, Leiter des Kyjiwer Büros der Heinrich-Böll-Stiftung, am 14. Juni 2023 in englischer Sprache. Redigierte maschinelle Übersetzung.
Dieser Artikel erschien zuerst hier: www.boell.de