Demokratie und Zusammenhalt setzen den Zugang zu Öffentlichen Räumen voraus. Damit sind nicht nur Straßen, Plätze, Parks etc. gemeint, sondern alle Öffentlichen Räume analoger und digitaler Natur, in denen Teilhabe, Begegnung in Vielfalt, Austausch und auch Streit stattfinden können. In diesen Räumen sollte außerdem der Zugang zu öffentlichen Gütern für alle möglich sein. Dazu gehören Schulen, Universitäten und andere Bildungseinrichtungen genauso wie Medien, Sport- oder Kunsträume.
Die plötzliche und langanhaltende Schließung eines Großteiles dieser Räume hat uns schmerzlich bewusst werden lassen, was uns individuell fehlt: das Flanieren auf der Straße, die Begegnung in Kita, Schule oder auf dem Sportplatz, das Schmökern in der Bibliothek oder der gemeinsame Besuch von Konzerten, Theatern und Kinos. Im Vermissen dieser Räume wurde uns klar, dass sie mehr sind als Orte des Lernens, des Lesens, des Trainings oder des Kulturgenusses: In Öffentlichen Räumen kann der Einzelne Gesellschaft erleben. Social distancing ist das Gegenteil von Begegnung und Teilhabe. Die strenge Zugangsreglementierung des öffentlichen Raums – absolut notwendige Maßnahme in der Pandemie – wirft die Einzelnen auf sich selbst zurück.
Die temporäre Schließung Öffentlicher Räume verschärfen aber auch Benachteiligungen. Gute öffentliche Schulen etwa sollen idealerweise gesellschaftliche Ungleichheit vermindern und Kindern möglichst gleich gute Chancen trotz unterschiedlicher Startbedingungen eröffnen. Ist der Zugang zu diesen öffentlichen Institutionen versperrt, nimmt soziale Ungleichheit zu. Lockdown, Kontaktverbot und das Gebot, die Wohnung nicht zu verlassen, wirken je nach Lebenssituation äußerst unterschiedlich. Eine Zeitung hat einen Artikel über Homeschooling mit einem Foto von Kindern bebildert, die hinter ihren Laptops in einem großen Garten sitzen – in einer kleinen Wohnung ohne Balkon und Internet stellt sich Homeschooling ganz anders dar. Gute Öffentliche Räume, gute Infrastrukturen, zu denen alle gleichberechtigten Zugang haben, sind ein Gerechtigkeitsthema.
Krisengewinnler Öffentlicher Raum?
Gleichzeitig gibt es aber Räume, die durch Corona an Bedeutung gewonnen haben. Das gilt insbesondere für die digitalen Öffentlichen Räume. Digitale Medien, Social Media und internetbasierte Kommunikationsforen übernehmen Funktionen traditioneller Öffentlicher Räume und erhalten damit einen Bedeutungszuwachs, den sie auch nach der Pandemie zumindest teilweise behalten werden. Damit stellen sich aber viele Fragen über digitale Räume in noch schärferer Form: Wie kann der digitale Raum mit seinen wenigen großen internationalen Playern demokratisch reguliert und Netzneutralität beispielsweise verteidigt werden? Wie sieht es – nicht nur bei Zoom – mit Datenschutz und Privatshäre aus? Auch haben sich Hass und Hetze durch die Pandemie gleichsam pandemisch verbreitet: Welche Regeln braucht ein hassfreier, demokratischer, inklusiver Diskurs im Netz? Wie können Fake News eingedämmt und verfolgt werden?
Neue Zugänge
In der Corona-Krise wurden aber auch Öffentliche Räume neu definiert. Pop-up-Radwege, temporäre Spielstraßen etc. zeugen davon, dass auch unter den Bedingungen von Abstandsregeln und Kontaktbeschränkungen die Frage nach dem Zugang zum Öffentlichen Raum in der Stadt neu gestellt werden kann und zum Beispiel vor Corona beschlossene Mobilitätsgesetze zügig umgesetzt werden. Die individuelle automobile Mobilität besetzt Öffentlichen Raum, ohne ihn fair und vernünftig zu nutzen. Begegnung und Austausch finden bestenfalls bei einem Streit an der Ampel statt. Trotzdem gehört dem Auto noch immer ein großer Teil des Stadtraums. Diese ungleiche Verteilung des Öffentlichen Raums, wie sie in unseren Städten der Nachkriegsmoderne noch immer prägend ist, wird unter den Bedingungen der Pandemie offensiv in Frage gestellt: Für Fußgänger*innen und Radfahrende werden die ihnen zugewiesen Räume unter den Bedingungen der Abstandsregelungen buchstäblich zu eng – in vielen Metropolen erobern sie sich deshalb zumindest temporär Teile des Raums, der bislang dem Autoverkehr vorbehalten war. Auch hier wird es spannend sein zu sehen, wieviel davon nach der Krise bewahrt und erweitert werden kann.
Aber auch in das Verhältnis von Stadt und Land kam durch die Krise Bewegung. Durch die abrupte Digitalisierung vieler Bereiche von Arbeit und Kommunikation, wie sie durch Kontakt- und Bewegungseinschränkungen im Zuge der Eindämmung der Pandemie notwendig wurde, entwickelte der ländliche Raum für viele in den urbanen Zentren eine neue Attraktivität. Jetzt war es mit einem Mal die Landluft, die frei machte (und Schutz bot) – zumindest, falls die digitale Infrastruktur mitspielte. Die Debatte um eine Aufwertung des ländlichen Raums durch gute öffentliche Infrastrukturen – auch über eine verbesserte Breitbandversorgung hinaus – könnte so nach der Krise eine neue Dynamik erfahren.
Perspektiven des Öffentlichen Raums
Drei Monate Eindämmungsmaßnahmen haben die Verletzlichkeit Öffentlicher Räume im Pandemie-Stresstest gezeigt. Gleichzeitig werden aber auch Perspektiven auf die Zeit nach der Covid-19-Krise offenbar. Unter den Bedingungen des Lockdowns hat sich die soziale Spaltung vergrößert und gefährdet damit den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Die Stützung in der Krise und die Wiederherstellung aller Funktionen Öffentlicher Räume und ihre Weiterentwicklung ist nicht Teil des Problems, sondern Teil der Lösung. Auch haben öffentliche Infrastrukturen wie das Gesundheitswesen gezeigt, wie systemrelevant sie in Krisenzeiten sind und wie falsch sich ein pauschales Abzählen von Krankenhausbetten erweisen kann. Für den Verbund der Heinrich-Böll-Stiftungen war die Beschäftigung mit Öffentlichen Räumen schon vor der Corona-Pandemie ein zentrales Thema. Die Einschränkung des Zugangs zu den Öffentlichen Räumen, wie sie zur Eindämmung der Pandemie nötig geworden sind, haben uns noch mehr verdeutlicht, welche Bedeutung diese Räume für eine demokratische, solidarische und inklusive Gesellschaft haben. Gleichzeitig hat die Pandemie aber eben auch dazu geführt, dass sich Bürger*innen und kommunale Verwaltungen neue Öffentliche Räume erschlossen haben. Letztlich hat die Krise den Diskurs über Öffentliche Räume neu belebt und mit neuen Perspektiven bereichert. Daran sollten wir nach der Krise anknüpfen.