Gemeinwohlorientierte Bodennutzung aus Tübinger Perspektive

Hintergrund

Der hohe Druck auf die Wohnungsmärkte vor allem in Groß- und Universitätsstädten hat dramatische Konsequenzen auf die individuellen Optionen zur Lebensgestaltung und die soziale Balance in unseren Städten. Und fast alle aktuellen Entwicklungstendenzen wie Baukosten, Zinsentwicklung oder Streichung von Förderung lassen eine Zunahme des Problems erwarten. Aber Kommunen haben auch Werkzeuge zum Gegensteuern.

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Das Mühlenviertel in Tübingen.

Trotz hoher Komplexität und Ohnmachtsgefühlen sind und bleiben die Kommunen beim Gegensteuern die relevanten Akteur:innen. Durch die Kombination aus Bodenpolitik, Planungsrecht und der Unterstützung der gemeinwohlorientierten Akteur:innen können sie mit einem „Werkzeugkasten“ aus fünf relevanten Handlungsfeldern arbeiten:

  1. Erwerb und Entwicklung von Bauland
  2. Sinnvolle Weitergabe von Bauland
  3. Städtebauliche Verträge
  4. Aktivierung und Regelung des Wohnungsbestands
  5. Förderung von gemeinwohlorientierten Akteur:innen

Am Beispiel Tübingens werfen wir hier einen kurzen Blick darauf, wie diese Werkzeuge in der Praxis aussehen können.

  1. Da unser gesamtes Rechtssystem – vom Grundgesetz bis zu den Landesbauordnungen – sehr „eigentumsorientiert“ ist, haben Kommunen den größten Handlungsspielraum eben dann, wenn sie nicht nur das Planungsrecht besitzen, sondern auch Eigentümerin sind. Tübingen nutzt daher gleich eine ganze Palette an Werkzeugen aus diesem Bereich: Entwicklungsmaßnahmen nach dem Baugesetzbuch (BauGB); eine eigene Entwicklungsgesellschaft nur für Brachflächen; privilegierten Grunderwerb von Land und Bund, wann immer durchsetzbar; Planungsrecht im Außenbereich nur dort, wo die Kommune vorher 100 Prozent der Grundstücke erwerben konnte. Größte Lücke im Werkzeugkasten: Das rechtliche Instrument einer Innenentwicklungsmaßnahme, mit der auch heterogene Gebiete ganzheitlich angegangen und Vorkaufsrechte für strategisch relevante Grundstücke effizienter ausgeübt werden können. Jedoch ist dieses Instrument in der Novelle des BauGB in der Praxis noch selten angewandt worden.

     
  2. Die Frage nach der Weitergabe ist bodenpolitisch mindestens genauso relevant. Für eine gemeinwohlorientierte Stadtentwicklung ist das Mittel der Wahl vermutlich die Konzeptvergabe zum Festpreis: Nicht die höchste Summe auf einem Zettel entscheidet über die Grundstücksvergabe, sondern die Frage, wer das beste Konzept anbietet. Dabei steht in Tübingen eine Frage im Vordergrund: Wer bietet – auch langfristig gesehen – das Konzept mit dem höchsten Mehrwert für die Öffentlichkeit?

     
  3. Oft haben Kommunen aber nicht die Gelegenheit, die Grundstücke zu erwerben, die für eine Entwicklung erforderlich sind. Das deutsche Planungsrecht bietet hier ein Instrument, das auch für die Gemeinwohlorientierung sinnvoll genutzt werden kann: die Koppelung von neuem Planungsrecht an städtebauliche Verträge. Weitgehend kommunaler Standard ist es inzwischen, die teilweise immensen privaten Planungsgewinne für die Schaffung sozialer Infrastruktur oder geförderten Wohnraums zu nutzen. In Tübingen müssen Investoren zwischen 33 und 50 Prozent der Flächen so entwickeln. Neuland ist es hingegen noch, über städtebauliche Verträge auch andere Akteur:innen in die Investoren-Entwicklung zu integrieren. In Tübingen wurde inzwischen erfolgreich geregelt, dass neben 25 Prozent sozialem Wohnungsbau auch 25 Prozent Grundstücksvergabe an Baugemeinschaften oder kleine Wohngenossenschaften erfolgen muss. 

     
  4. Nur 1 bis 1,5 Prozent des Wohnungsbestandes werden in einer Kommune wie Tübingen jährlich neu gebaut. Der Fokus einer gemeinwohlorientierten Stadtentwicklung muss sich also zwangsläufig auch auf den Bestand richten. Hier ist eine Mischung aus Regularien und Aktivierungen sinnvoll: Zweckentfremdungssatzung, Mietpreisbremse und Umwandlungsverbote auf der einen Seite, Umzugsmanagement, kommunale Anmietung von Wohnraum und Belegungsbindung im Bestand auf der anderen Seite. Gerade das letzte Werkzeug hat großes Potenzial: Bestandswohnungen können in Baden-Württemberg einen erheblichen Zuschuss erhalten, wenn sie für 20 oder 30 Jahre als sozialer Wohnraum gebunden werden. Tübingen packt seinerseits nochmal einen Zuschuss obendrauf.

     
  5. Kommunen müssen die Qualität und Vielfalt gemeinwohlorientierter Akteur:innen aktiv unterstützen und fördern, wenn sie langfristig gemeinwohlorientiert denken. In Tübingen haben Baugemeinschaften, kleine Genossenschaften, Crowd-Funding-Projekte oder das Mietshäuser Syndikat hohe Priorität. Die Stadt selbst hat eine Dachgenossenschaft gegründet, um auch kleinen Projekten die Vorteile einer genossenschaftlichen Struktur zu ermöglichen. Ein Beispiel für die aktive Bürgerschaft: Der überwiegende Anteil des Tübinger Flüchtlingswohnens wurde von Baugemeinschaften und kleinen Genossenschaften bereitgestellt.

Kaum ein politisches Handlungsfeld ist so komplex und vielschichtig wie die Boden- und Wohnraumfrage. Und auch kaum eines ist kommunalpolitisch so drängend. Wünschenswert wäre, wenn alle relevanten Akteur:innen – also auch Bund und Länder – an effektiven und praxisorientierten Werkzeugen für eine gemeinwohlorientierte Stadtentwicklung arbeiteten, die zusammenpassen.


Die Erstveröffentlichung dieses Beitrags war im E-Book Social-Ecological Cooperative Housing. Gemeinschaftliches, transformatives Bauen und Wohnen erschienen im JOVIS-Verlag.


Dieser Artikel erschien zuerst hier: www.boell.de