Schon als Kind übten Gedichte eine besondere Faszination auf Judith Seßler aus. Als Jugendliche entdeckte sie ihren Zugang zum Schreiben. Über die Jahre wurde das Schreiben von Poetrys für sie eine Art Entspannung, Stressabbau und Flucht aus dem Alltag, die ihr immer wieder guttut. Als sie von dem Wettbewerb hörte, bewegte sie das Thema sofort. In Gesprächen fiel ihr auf, dass Freiheit ein Begriff ist, der mit ganz unterschiedlichen Dingen verbunden wird und dass sich der Freiheitsbegriff des einen oft nicht mit dem des anderen deckt. Gleichzeitig ist der Begriff emotional aufgeladen und viele haben verständlicherweise Angst um ihre Freiheit. Diese Beobachtung motivierte und inspirierte sie, an dem Wettbewerb teilzunehmen.
Judith Seßler | Ein Text über Freiheit - Heinrich Böll Stiftung Baden-Württemberg
Direkt auf YouTube ansehenText über Freiheit
Ich versuche einen Text über Freiheit zu schreiben und stelle fest, mir fällt es schwer. Für einen Seefahrer liegt die Freiheit, so sagt man oft, auf dem Meer.
Für Reinhard Mey liegt sie über den Wolken. Und die Toten Hosen monieren, die Freiheit sei darunter nicht mehr vollständig gegeben.
Freiheit ist schwer zu definieren.
Freiheit - das muss man erleben.
Für mein Patenkind ist Freiheit im Garten spielen. Heimlich mit Süßigkeiten dealen. Keine Schulaufgaben machen, stattdessen Sommerferien haben.
Im Garten nach Fossilien graben. Sich keine Gedanken darüber machen, ob andere sie gut finden, so wie sie ist. Eine Art Freiheit, die man viel zu leicht vergisst.
Für meine 16-jährige Cousine ist Freiheit, auf Partys gehen und länger zu bleiben, als von ihren Eltern erlaubt.
Kleidung, die sie bei Primark abstaubt.
Alkohol zu trinken und Auto zu fahren. Ihren Eltern zu sagen, dass sie die längste Zeit die Bestimmer waren.
Für meine Freundin ist Freiheit, mal einen Abend ohne Kinder verbringen.
Oder eine ganze Woche mit ihnen. Genug Geld zu verdienen, dass keine Sorgen bestehen. Einmal auf ein Date mit ihrem Mann gehen. In den Urlaub fliegen, so oft es nur geht. Ski fahren im Winter, bis kein Schnee mehr besteht.
Für meinen Nachbarn ist Freiheit, keinen Kredit mehr abzubezahlen.
Mit dem neuen Porsche prahlen.
Sein über Generationen aufgebautes Vermögen in das zu investieren, was er sich für sein Leben vorstellt und ja dazu zählt vielleicht eine Kreuzfahrt um die Welt.
Ein großes Erbe zu hinterlassen.
Es nicht bei drei Bier am Abend zu belassen.
Für meine Oma ist Freiheit, in ihrer Wohnung zu bleiben, obwohl sie 92 ist.
Freiheit ist, wenn sie nichts vergisst.
Wenn Sie eine Zeitung noch lesen kann.
Ein Geschenk für die Enkel ab und an. Freiheit ist für sie alleine auf Toilette gehen. Nur so lange leben, wie sie das Gefühl hat selbstständig zu sein. Selbstbestimmt zu gehen und das nicht allein.
Und so stellen wir fest:
Freiheit, ein Nomen fürwahr.
Ein weiblicher Singular. Und doch eindeutig ein Begriff, der im Plural zu gebrauchen.Ein Begriff, kann man ihn vertauschen? Hochkomplex und schwer zu fassen, lasst uns weiter damit befassen.
Mein Patenkind kann nur voller Freiheit im Garten spielen, weil meine Freundin arbeitet bis zum Geht-nicht-mehr.
Bis sie denkt: Dieses Leben ist viel zu schwer. Sie sich Freiheit im Urlaub wünscht, den sie sich nicht nehmen kann.
Denn schließlich denkt sie stets daran:
Mein Kind solls mal besser haben.
Meine Cousine kann sich nur günstig bei Primark eindecken, weil es Kinder in Indien waren, die die Kleidung nähten.
Die harte Fabrikarbeit gegen Spielen im Freien wählten, um selbst einfach nur zu überleben.
Im Kopf der Wunsch nach Freiheit.
Der für sie unerreichbar erscheint.
Und es ist mein Nachbar, der mit seinem Porsche Emissionen in die Luft pustet, die schlecht für unser Klima sind.
Die vielleicht einmal schädlich werden für sein eigenes Kind. Das sich womöglich fragt, woher es noch seine Nahrung kriegt.
Denn die Luft ist schlecht.
Das Wasser so knapp.
Und die letzten Vorräte machen langsam schlapp.
Und es ist meine Oma, die allein in einem Einfamilienhaus wohnt. Währen andere sich fragen, wo sie die nächste Nacht verbringen.
Oder sich zu sechst in zwanzig Quadratmeter zwingen.
Wir stellen also fest, ein moralischer Konflikt. Freiheit als Paradoxon, das sich selbst verstrickt.
Ein Antonym.
Nein! Eine Antithese.
Ein Wort, das ich immer wieder lese. Und doch nicht so recht weiß, was es eigentlich wirklich ist.
Womöglich kann es Freiheit im Leben nur mit ihrem Gegenteil geben. Ich habe Freiheit, wenn du dafür keine hast.
Mein Gott habe ich diese Ungerechtigkeit satt.
Und doch, kann ich keine Lösung präsentieren.
Und auch ich habe Angst meine Freiheit zu verlieren.
Denn auch ich möchte in Freiheit leben. Sagt mal, kann es Freiheit eigentlich auch, ohne einen Krieg davor geben?
Ich weiß nur so viel.
Es ist keine Lösung zu sagen: „Mir ist das egal“. Es ist keine Lösung, habe ich die Wahl, meine Freiheit über die aller anderen zu stellen.
Das ist ein Wert.
Etwas an das ich glaube. Wenn ich anderen ihre Freiheit raube, nehme ich auch ein Teil von meiner. Denn keiner kann frei sein in jeglicher Art, wenn er dabei an der Freiheit von anderen spart.
Und es macht mich unglücklich, dass Freiheit so ungleichmäßig verteilt ist auf unserer Welt.
Vielleicht noch viel ungerechter als unser Tauschmittel Geld. Und doch gibt es einen Ort, an dem sind wir alle frei.
Das erkannt bereits John Lennon. An dem Ort, lasst ihn mich: Gedankenplatz nennen.
Da ist alles möglich. Mit den Scorpions im Ohr stell ich mir an diesem Platz vor, dass der Wind nochmal seine Richtung dreht. Und Freiheit für alle - auf einmal geht!
Begründung der Jury
Der Text sticht hervor durch seine vielfältigen, lebensnahen Beispiele und seine klare Struktur.
In der ersten Hälfte werden Menschen, die wir alle aus unserem Umfeld kennen, vorgestellt und ihr Freiheitsempfinden beschrieben.
In der zweiten Hälfte geht es um die Auswirkungen, die die Wahrnehmung individueller Freiheitsrechte auf die Gesellschaft und das Weltklima haben kann.
Der authentische Text reflektiert über den komplexen Begriff der Freiheit, der je nach Perspektive unterschiedlich interpretiert wird.
Es wird gezeigt, dass die Freiheit des Einzelnen oft auf Kosten anderer geht und das Publikum wird dazu ermuntert, sich zu fragen:
Was ist gerecht?